|
|||||
Tel: 02234 - 52209 |
Es gibt in der Wissenschaft unendlich viel Forschung zu diesem Thema und weit über dreißig verschiedene Theorien. Trotz massenhafter Beschäftigung damit ist bis heute unklar, ob es eine konkrete Ursache für LRS ("Legasthenie") überhaupt gibt. Daher bleibt es in der Regel bei "Kann-Erklärungsversuchen", Vermutungen oder unbewiesenen Schlussfolgerungen. Relativ breite Einigkeit scheint derzeit darüber zu bestehen, dass die Schwierigkeiten mit Entdeckungen aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts zu tun haben können, die man heute mit Phonologischer Bewusstheit und Benennungsgeschwindigkeit bezeichnet. Man spricht - Rekodieren (ohne Sinnerfassung "übersetzen") inbegriffen - von phonologischer Informationsverarbeitung. Während einige Wissenschaftler hierbei von bedeutsamen Vorläuferfertigkeiten zum Schriftspracherwerb sprechen, gehen andere davon aus, dass diese aus dem Umgang mit Schriftsprache erst erwachsen. - Heute scheint sicher zu sein, eine konkret bewiesene medizinische Ursache für das zum Teil immerhin als Erkrankung (vgl. ICD, UES) umschriebene pädagogische Ausgangsproblem LRS existiert nicht. Daher wird zur Erklärung des Phänomens weiterhin auf die "multifaktorielle" Verursachungsvariante zurückgegriffen, nach der viele Faktoren - eher als Bedingungsfeld - für die Entwicklung von LRS in Frage kommen. Derzeit werden veraltet geglaubte medizinische Erklärungsansätze wie Hirnreifungsverzögerungen, Stoffwechselerkrankungen oder frühkindliche Hirnschädigung (MCD), von denen man sich als mögliche Ursachen für LRS z.T. bereits verabschiedet hatte, wieder neu oder noch immer diskutiert (vgl. Lauer, 2001). Wie jüngeren internationalen Studien zu entnehmen ist, stellen Begleiterscheinungen wie Wahrnehmungsprobleme, Sprachprobleme, AD(H)S etc. bei nur etwa einem Drittel der von LRS betroffenen Personen begleitende Symptome dar. Der bisweilen anzutreffende Schluss von einer Minderheit - nämlich Schülern mit gleichzeitig LRS und ADS - auf die Gesamtheit aller LRS-Betroffenen verbietet sich ohne entsprechende Nachweise von selbst. Als sicher kann lediglich angenommen werden, dass Begleiterscheinungen wie ADS und ADHS - Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom ohne/mit Hyperaktivität (englisch: ADHD, Attention Deficit Hyperactivity Disorder) - die Lernschwierigkeiten für Betroffene zusätzlich erhöhen oder in ähnlicher Weise mitbewirken können. - Weiterhin können selbstverständlich äußere Faktoren lernhemmende Wirkungen haben. Daneben werden neurobiologische Struktur- und Verarbeitungsvarianten des Gehirns in Zusammenhang mit LRS gebracht. Ohne zu erwähnen, dass diese Unterschiede völlig normal oder anders bedingt sein können, werden sie manchmal als legasthenietypische "Veränderungen" dargestellt. Dies weckt unter Umständen die Assoziation, LRS-Schüler seien möglicherweise krank oder "unnormal". Doch hierzu gibt es keinerlei sachliche Veranlassung. Denn außer - theoretisch denkbaren - Annahmen gibt es u.E. derzeit weder national noch international bekannte, wissenschaftlich anerkannte Beweise hierfür. Statt Ursachen können die angeführten Varianten ebenso Folgen fehlenden Trainings oder - wie die jüngere Lateralitätsforschung zeigt - Kennzeichen völlig normaler Unterschiede sein. Beispielsweise konnten auch bei Musikern gravierende Strukturdifferenzen und Verarbeitungsunterschiede des Gehirns bei der Bewältigung gleicher Aufgaben festgestellt werden. - Unbestreitbar kann eine unbehandelte LRS in der Folge zu psychoreaktiven Störungen (Folgesymptomatik, Sekundärsymptomatik) führen. Weitgehend gesichert erscheint ein indirekter Zusammenhang zwischen LRS und genetischen Einflüssen. Man spricht von "genetischer Disposition". Diese bezieht sich nicht auf Wahrnehmungsschwächen, sondern auf Besonderheiten bei der Verarbeitung bereits wahrgenommener Informationen in unserem Nervensystem bzw. Bewusstsein. Disposition bedeutet, eine erbliche Konstellation, die für die Ausbildung von LRS möglicherweise mitverantwortlich ist, kann in einigen Familien gehäuft vorkommen. Ähnlich wie von Hallgren bereits vor über 50 Jahren erkannt, deuten auch heutige nationale und internationale Familienuntersuchungen zu LRS erneut darauf hin, dass es erbliche Anstöße für Varianten gesunder mentaler Entwicklung gibt, die im Zusammenspiel mit individuell unpassenden Variablen des Schriftspracherwerbs vermehrt zu LRS führen können. - Die Ursachenforschung geht derweil weiter (Pressemeldung 2005: "Forscher entdecken Gen, das Legasthenie auslöst", das "DCDC2-Gen" auf Chromosom 6, das dem Text der Meldung zu Folge "offenbar" mit LRS zu tun haben "kann", wie, sei allerdings "nicht genau bekannt"). Die konkrete Bedeutung genetischer Ursachen für die praktische pädagogische Arbeit bei LRS ("Legasthenie") ist indessen als eher minimal einzustufen; denn die genetischen Grundlagen eines Menschen bleiben lebenslang unverändert bestehen und sind nicht ursächlich therapierbar. Nicht wenige sind hingegen der Auffassung, die Ursachen für LRS seien nicht auf Schülerseite, sondern auf anderen Seiten des Lernens zu finden. Möglicherweise sei das an der großen Masse der Menschen orientierte Lernen und Lehren in diesem Lernbereich für einen Teil der Schüler zu eng und einseitig auf das einfache, "gut gereihte Denken" ausgerichtet. Veranlagungen mit anders gewichteten Intelligenzformen, Denkstilen, Verarbeitungsmechanismen oder Entwicklungsgeschwindigkeiten würden neben unterschiedlichen Vorerfahrungen zu wenig erkannt oder berücksichtigt und deshalb vernachlässigt. (vgl. hierzu u.a.: Dummer-Smoch, Gardner, Freed, Klicpera/Gasteiger, Klippert, Pennington, Reid, Valtin, Vanselow).
|
||||
Kontakt: Goswin Pier .::. 02234 - 52209 |