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LRS - Teilleistungsstörungen
... als das auf Grundlage einer "frühkindlichen Hirnschädigung" vorgeschlagene medizinische Modell der "Minimalen Zerebralen Dysfunktion" (MCD) nicht mehr aufrecht erhalten werden kann, wird das Konzept der "Teilleistungsstörung" eingeführt, welches in seinem Ursprung auf Luria zurückgeht... Der Begriff Teilleistungsstörung ist heute oft mit Inhalten schillernder Vielfalt angefüllt. Ein Blick zurück erscheint deshalb durchaus lohnenswert. Alexander Romanovic Luria, manchmal Lurija, 1902-1977, beginnt sein Studium der Psychologie an der Universitätsstadt Kasan östlich von Moskau mit 16 und schließt es 1921 mit 19 Jahren ab. Er bildet sich später besonders auf dem Gebiet der Aphasien weiter. Er ist brennend an den Zusammenhängen zwischen Denken und Gehirn - genauer: kognitiven Funktionen und Hirnstruktur - mit dem Ziel einer vereinheitlichten Psychologie interessiert. Die Vorgehensweise, über nicht mehr vorhandene Hirnfunktionen - bedingt etwa durch Verletzungen - zu Wissen über ihre normale Funktionsweise zu gelangen, nennt er später die Hauptmethode der "Neuropsychologie". Der zweite Weltkrieg mit den vielen Opfern eröffnet ihm ein üppiges Betätigungsfeld, um seine Theorie der Hirnfunktionen auf verschiedenen Ebenen des zentralen Nervensystems ("Theorie der funktionellen Systeme", "Lokalisationstheorie") zu entwickeln. Aufbauend auf Wygotskis (manchmal Vygotskij) Kontexttheorie - schlägt er zur Erklärung zentraler Verarbeitungsprozesse eine interaktionistische Sichtweise innerhalb eines ganzen Systems von Funktionen vor, welches er als "funktionelles System" bezeichnet. Komplexe Anpassungsaufgaben sind nach diesem Modell nur unter Beteiligung eines größeren Systems von Funktionen zu lösen. Bei der Bewältigung komplexer Aufgaben wie z.B. Bewegung, Atmung, Gefühlen, Sprache, Wahrnehmung, Denken arbeiten verschiedene Subsysteme als ein funktionelles Gesamtsystem jeweils polyvalent (nicht fest in einem System "verdrahtet", gleichzeitig auch in andere Systeme integriert) zusammen. Die Vorstellung ist ungefähr: Bei einer Unterhaltung etwa bilden das Broca-Areal, das Wernicke-Zentrum, Verbindungen und andere beteiligte Subsysteme ein funktionelles System; ähnlich soll es auch beim Schreiben oder Lesen sein. Wenn nun eine Teilleistung in einem funktionellen System nicht erbracht wird, ein Subsystem gestört oder in der Leistung gemindert ist und nicht durch ein anderes ersetzt werden kann, gelingt die Bewältigung der komplexen Aufgabe zum erwarteten Zeitpunkt und auf die gewünschte Art und Weise nicht (vgl. Luria 1966, 1970, 1992). Grundsätzlich müsste die Frage nach der Sachdienlichkeit beantwortet werden, allein über den Ausfall einer Teilkomponente - wenn auch "detektivisch", wie Luria meint - auf die vollständige funktionelle Organisation und Wirkungsweise eines gesamten höheren funktionellen Systems mit Milliarden von unterschiedlichen Einzelelementen schließen zu können. Bei der Frage nach der Eindeutigkeit liegt ein Knackpunkt in der Polyvalenz (der vielseitigen Verwendbarkeit) der vorgeschlagenen Systeme. - Im Hinblick auf LRS wären Fragen zu beantworten, welche Teilkomponenten beispielsweise bei welcher "fehlerhaften" Enkodierung oder Dekodierung im Schreibleseprozess welche Minderleistung erbringen. Um für betroffene Schüler auch praktische Relevanz und Nutzen zu gewinnen, müssten schließlich passende Mittel oder Verfahren gefunden werden, welche die Minderleistung der erkannten Teilkomponente so erhöhen oder kompensieren, damit das funktionelle System seine Leistung richtig entfalten kann. - Die "Fehleranalyse", die in der von Luria vorgeschlagenen Untersuchungstechnik sehr viel Erfahrung voraussetzt, ist in diesem Konzept der Schwachpunkt im Detail. Trotz rasanter Fortentwicklung funktionell-bildgebender Verfahren zur Messung der Zusammenhänge zwischen Gehirnstruktur und geistigen Funktionen muss das Modell wissenschaftlich - zumindest im Detail - als unbewiesen gelten, das haben Versuche schon gezeigt (vgl. Golden et al., 1985). Zudem sind auch Teilkomponenten eines Systems objektiv zu beschreiben, zu erfassen, zu messen und darzustellen, d.h. letztlich zu beweisen. "Ernstzunehmende Forscher betrachten die Dinge von allen Seiten und behaupten nichts, was sie nicht beweisen können" (E. Klasen, Zeitschrift des ÖBVL, Nr. 4, 2003). - Die Forschungen zu Zusammenhängen zwischen Hirnaufbau und kognitiven Funktionen stecken generell noch in den Kinderschuhen (vgl. Russ, 2003; Gisiger et al., 2000; Horwitz et al., 1999; Price et al., 1999). - Außerdem erscheint es auch gut möglich, dass es psychologische Erscheinungen gibt, die keinerlei physiologische Entsprechung besitzen (vgl. Wittgenstein, 1994). Aufbauend auf dem Begriff der Teilleistung führt Johannes Graichen 1973 den Ausdruck "Teilleistungsschwäche" ein. Später spricht er von Teilleistungsstörung, wieder später von Teilfunktionsschwächen. Er bezeichnet "Teilleistungen als Leistungen einzelner Faktoren oder Glieder innerhalb eines funktionellen Systems", die zur Bewältigung komplexer physiologischer oder pädagogisch-psychologischer Aufgabenstellungen - Anpassungsaufgaben - erforderlich sind. Teilleistungsschwächen sind Leistungsminderungen einzelner Faktoren oder Glieder innerhalb eines größeren funktionellen Systems (vgl. Graichen, 1973, 1979,1983). Die Begriffe Teilleistungsstörung bzw. Teilleistungsschwäche finden sich fast ausschließlich im deutschsprachigen Raum wieder. Sie werden hier - vorwiegend im medizinischen, heil- und sonderpädagogischen Bereich - sehr unterschiedlich verwendet, wobei in aller Regel neurophysiologische Ursachen ("Defizite") mitklingen, die stets im Kind selbst liegen sollen. In der letzten Zeit finden die basalen Wahrnehmungstheorien - vor allem in der Sonderpädagogik - immer mehr Verbreitung (vgl. Brand, Breitenbach et al., 1988). Teilleistungsstörungen werden uneinheitlich und ungenau definiert. Beispielsweise sind Teilleistungsstörungen nach Jean Ayres Funktionsstörungen der Wahrnehmung, der Motorik und der Integrationsprozesse. Steinhausen definiert sie als "relativ isoliert auftretende Defizite oder Verzögerungen von Funktionen, die von der Reifung des ZNS abhängen". Sie werden auch gesehen als "relativ verfestigte und konstante, personimmanente, angeborene oder erworbene Defekte, die sich an der Oberfläche in unzureichenden, nicht der Norm entsprechenden Schulleistungen in den Grundlagenfächern manifestieren" (vgl.: Zwack-Stier, Börner, 1998). Inzwischen werden unter dem Begriff Teilleistungsstörung an die 500 unterschiedliche, schwer einzuordnende Symptome zu einer unüberschaubaren Größe zusammengewürfelt (vgl.: Naggle, 1994). Mit Recht wird daraus gefolgert, Teilleistungsschwächen seien ungenau definiert, ätiologisch und pathogenetisch heterogen und daher diagnostisch nur bedingt erfassbar. Es bliebe vor allem ungeklärt, ob die bisher dokumentierten Teilleistungsstörungen auch nur annähernd erklären können, wodurch die Verhaltens- und Lernstörungen bedingt sind (vgl. z.B.: Karch, 1989). Die Problematik führte schließlich zu der Feststellung, dass das neuropsychologische Teilleistungskonzept keine gesicherte Basis hat, weder in der Theorie noch in der Praxis (vgl. Begemann, 1995). Den heute in ähnlicher Weise gebräuchlichen Definitionen von UES - Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten - liegen weitgehend dieselben Annahmen wie dem Konzept der Teilleistungsstörungen zugrunde. Bisweilen werden Lese- Rechtschreibschwächen und Rechenschwächen mit Teilleistungsschwächen oder UES gänzlich gleichgesetzt. Je weiter sich der Begriff "Teilleistungsstörung" inhaltlich vom ursprünglichen medizinischen Kontext entfernt, desto weniger Bedeutung hat er. Die Modelle gehen von der Vorstellung aus, dass höhere psychische Funktionen, zu denen auch Lesen, Schreiben zählen, gleichsam automatisch durch Wahrnehmungsmängel oder eine gestörte Motorik in Mitleidenschaft gezogen sind. Grundgedanken dabei sind: Die Reifung der verschiedenen Teile des menschlichen Gehirns erfolgt etwa ab dem 25. Tag in hierarchischen Stufen von einfachen motorischen Reflexen bis hin zu höheren Funktionen wie Sprache und Denken. Diese Stufen entsprechen der Stammesgeschichte der Lebewesen. Erst müssten sich niedere Leistungen, z.B. Motorik, als Voraussetzungen aufbauen, auf denen sich dann erst die höheren entwickeln könnten. Es wird angenommen, dass es "Funktionen" mit "Störungen" gibt, die entweder angeboren oder im Laufe der Entwicklung vom frühen embryonalen Stadium bis in die Jugend hinein erworben sind. Es wird weiter angenommen, diese Störungen im Sinne von Unterbrechungen im Funktionskreis könnten durch einfache Reizstimulationen unterschiedlicher Art gemildert werden. Schwierigkeiten im Lesen und Schreiben werden auf nichtsprachliche Teilfunktionen zurückgeführt, woraus sich die Hoffnung schöpft, Lesen und Schreiben würden sich dann entwickeln, wenn die "lerngestörten" Kinder erst einmal eine Basistherapie im taktil- kinästhetischen, vestibulären und propriozeptiven Bereich absolviert hätten. Unter dem Blickwinkel der Wirksamkeit bei LRS wird das Konzept der Teilleistungsstörungen mit den dafür üblichen Maßnahmen heute immer kritischer gesehen. Zudem konnte inzwischen nachgewiesen werden, dass die Mehrzahl der Kinder mit medizinisch erkennbaren Teilleistungsstörungen keinerlei LRS-Probleme aufweist. Des weiteren ist ein nur geringer Teil der LRS-Schüler gleichzeitig auch von Teilleistungs- oder Funktionsstörungen medizinischer Art betroffen. Zusammenhänge zwischen basalen und höheren kognitiven Leistungen erscheinen zwar denkbar, sind im Hinblick auf LRS jedoch nicht nachgewiesen. Es gibt weiterhin keine allseits anerkannten Bestätigungen für die Vermutung, dass durch basale Trainings, wie sie etwa bei Wahrnehmungsfehlern, Motorikschwächen oder Integrationsproblemen etc. verordnet und durchgeführt werden, auch gleichzeitig Lese- Rechtschreibschwierigkeiten behoben werden könnten (vgl. u.a. Valtin, 2003). Abgesehen davon, dass wir Menschen im Gegensatz etwa zum Bewegen, Sehen, Hören, Riechen, Fühlen, Schmecken, Denken und Empfinden in unserer Stammesgeschichte weder das Lesen noch das Schreiben als Vorteil zum Überleben benötigt haben, weiß man heute, dass die kindliche Entwicklung weitaus vielschichtiger und zudem wesentlich veränderbarer ist als bisher angenommen. Besonders das psychosoziale Umfeld des Kindes und die Entfaltung von Eigenaktivitäten spielen weit wichtigere Rollen als bislang gedacht.
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